Umgangsausschluss bei häuslicher Gewalt – Warum ein Gutachten (fast) immer erforderlich ist
OLG Jena, Beschluss vom 28.01.2025 – Az. 1 UF 214/24
Einleitung: Gewalt – und dann?
Wenn ein Elternteil gewalttätig wird, stellt sich oft die Frage: Darf dieser Mensch weiterhin Umgang mit seinem Kind haben?
Viele Betroffene wünschen sich nach solchen Vorfällen einen klaren gerichtlichen Schnitt: kein Kontakt mehr, um die Kinder zu schützen. Und tatsächlich kann ein Familiengericht den Umgang ausschließen – aber nicht ohne fundierte Grundlage.
Das zeigt eine Entscheidung des OLG Jena: Ein Umgangsausschluss ohne vorherige sachverständige Begutachtung des Kindes ist rechtswidrig.
Was das bedeutet und worauf Betroffene achten sollten, erklären wir in diesem Beitrag.
Der Fall: Gewalt gegen die Mutter – Kind war dabei
In dem zugrundeliegenden Verfahren ging es um ein vierjähriges Kind. Die Eltern hatten nie geheiratet und lebten getrennt. Die Mutter war mit dem Kind weggezogen, nachdem es wiederholt zu massiver häuslicher Gewalt gekommen war – zuletzt hatte der Vater sie geschlagen und gewürgt, während das Kind auf ihrem Schoß saß. Eine Gewaltschutzanordnung untersagte dem Vater jeglichen Kontakt zur Mutter.
Trotzdem beantragte der Vater im Februar 2024 den Umgang mit dem Kind – zunächst begleitet, später auch unbegleitet. Die Mutter wehrte sich mit dem Hinweis auf die erlebte Gewalt. Das Familiengericht gab ihr Recht: Der Umgang wurde für zwei Jahre vollständig ausgeschlossen. Das Kind habe Gewalt und Demütigung miterlebt und sei seelisch gefährdet.
Der Vater legte Beschwerde zum Oberlandesgericht ein – mit Erfolg.
Was entschied das OLG Jena?
Das OLG hob die Entscheidung auf – und fand klare Worte:
„Das Amtsgericht ist seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung gemäß § 26 FamFG nicht ausreichend nachgekommen.“
⚖️ Nach Ansicht des OLG hätte das Amtsgericht zwingend ein familienpsychologisches Gutachten einholen müssen, um festzustellen:
- Ob überhaupt eine konkrete Kindeswohlgefährdung vorliegt
- Wie schwer die psychischen Folgen der miterlebten Gewalt für das Kind tatsächlich sind
- Ob ein begleiteter Umgang möglich wäre, ohne das Kind zu gefährden
Warum ist ein Gutachten so wichtig?
Ein familienpsychologisches Gutachten hilft dem Gericht, die individuelle Belastungssituation des Kindes sachlich und fachlich einzuordnen.
Das Gericht darf nicht einfach auf Verdacht oder aufgrund eigener Eindrücke handeln – insbesondere dann nicht, wenn das Kind bei der Anhörung keine auffälligen Reaktionen zeigt.
Ein vollständiger Umgangsausschluss ist einer der stärksten Eingriffe in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG. Er ist nur zulässig, wenn das Kindeswohl konkret, schwerwiegend und gegenwärtig gefährdet ist – und keine milderen Mittel zur Verfügung stehen.
Welche milden Mittel gibt es?
Gerichte müssen stets prüfen, ob der Umgang nicht auch in begleiteter Form stattfinden kann. Dazu gehören zum Beispiel:
- Begleiteter Umgang in geschützter Umgebung (z. B. Kinderschutzbund)
- Umgangspflegschaft
- Stufenweise Umgangsregelung mit Zwischenevaluation durch Fachkräfte
Solche Maßnahmen können helfen, das Spannungsfeld zwischen Kinderschutz und Elternrecht auszubalancieren.
Häusliche Gewalt – ein Automatismus?
Der Fall zeigt: Auch wenn häusliche Gewalt ein besonders sensibles Thema ist, bedeutet sie nicht automatisch, dass der Umgang ausgeschlossen werden darf.
Das OLG betont ausdrücklich:
„Die Gewaltanwendung gegenüber der Mutter und das Miterleben durch das Kind sind zu berücksichtigen, führen aber nicht automatisch zum Ausschluss des Umgangs.“
Stattdessen muss im Einzelfall geprüft werden:
- Hat das Kind traumatische Folgen erlitten?
- Welche Schutzfaktoren bestehen (z. B. Bezug zur Mutter, Abstand zum Vater)?
- Wie stabil wäre ein Umgang mit unterstützender Begleitung?
Diese Fragen lassen sich nur durch ein Gutachten zuverlässig beantworten.
Die Istanbul-Konvention – und ihre Grenzen
Die Entscheidung steht im Spannungsfeld der Istanbul-Konvention, die häusliche Gewalt als Menschenrechtsverletzung einstuft und konsequenten Schutz für Betroffene verlangt.
Auch das OLG betont die Bedeutung der Konvention – doch es sagt auch:
Die Schutzpflicht des Staates entbindet nicht von rechtsstaatlichen Mindeststandards.
Ein Umgangsausschluss ohne Beweiserhebung verstößt gegen das faire Verfahren und das Elternrecht – selbst in Gewaltfällen.
Was bedeutet das für Betroffene?
👩⚖️ Für betroffene Mütter und Väter gilt:
- Gerichte dürfen nicht einfach „nach Bauchgefühl“ entscheiden.
- Wenn ein Ausschluss beantragt wird oder droht, kann ein Gutachten erforderlich sein.
- Auch wer Gewalt erlebt hat, sollte wissen: Der Schutz des Kindes steht im Vordergrund – nicht die Bestrafung des anderen Elternteils.
Umgekehrt heißt das: Wer zu Unrecht ausgeschlossen wird, hat gute Chancen auf Erfolg – wenn keine fundierte Tatsachengrundlage vorliegt.
©Karola Rosenberg