Grenzen familiengerichtlicher Auflagen nach § 1666 BGB – Beschluss des KG Berlin vom 20.08.2024 – 17 WF 87/24
Kinderschutz ja – aber nicht um jeden Preis
In hochstrittigen Trennungsfamilien versuchen Familiengerichte mit einer Vielzahl von Auflagen, das Kindeswohl zu schützen. Dazu gehören auch Beratungsauflagen – etwa die Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training für Elternteile mit problematischem Verhalten. Doch wie weit dürfen Gerichte dabei gehen?
Mit seiner Entscheidung hat das Kammergericht Berlin im August 2024 klargestellt: Ein Anti-Gewalt-Training darf nicht gegen den Willen eines Elternteils mit Zwang durchgesetzt werden – auch nicht im Namen des Kinderschutzes.
Der Ausgangspunkt: Wiederholte Gewaltvorfälle im familiären Umfeld
Im zugrundeliegenden Fall ging es um getrenntlebende Eltern mit gemeinsamem Sorgerecht für zwei Kinder. Die Kinder lebten bei der Mutter. Nachdem die Eltern sich auf eine neue Umgangsregelung geeinigt hatten, leitete das Familiengericht zusätzlich ein einstweiliges Anordnungsverfahren nach § 1666 BGB ein – also wegen drohender Kindeswohlgefährdung.
In diesem Rahmen erließ das Gericht mehrere Auflagen:
- Kein direkter Kontakt der Eltern bei den Kinderübergaben
- Teilnahme beider Eltern an einer Trennungskindergruppe
- Beratung der Mutter bei einer Gewaltberatungsstelle
- Beratungsauflage für den Vater: Teilnahme an einem neunmonatigen Anti-Gewalt-Training beim Berliner Zentrum für Gewaltprävention, mit Nachweis gegenüber dem Gericht
Die Maßnahme wurde damit begründet, dass die Kinder mehrfach Zeugen von aggressivem Verhalten geworden seien. Der Vater war zudem strafrechtlich wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt worden – eine von ihm getretene Flasche hatte eines der Kinder getroffen.
Der Vater zeigt keine Einsicht – und das Programm lehnt ihn ab
Zunächst nahm der Vater an zwei Vorgesprächen beim Zentrum für Gewaltprävention teil. Doch dort zeigte er sich uneinsichtig:
Er bestritt jede Gewaltausübung, schob die Schuld an Konflikten auf die Mutter und lehnte jede Verantwortungsübernahme ab. Die Einrichtung sah daher keine Erfolgsaussicht für das Programm und schloss ihn aus.
Kurz darauf kam es zu einem erneuten Polizeieinsatz wegen Bedrohung und Beleidigung der Mutter. Jugendamt und Verfahrensbeistand empfahlen Sanktionen.
Zwangsgeld vom Amtsgericht – und der Vater wehrt sich
Das Amtsgericht reagierte mit einem Zwangsgeld von 500 €, ersatzweise Zwangshaft, um die Beratungsauflage durchzusetzen. Der Vater legte sofortige Beschwerde ein. Seine Argumentation: Die Maßnahme sei nicht durchführbar, da die Beratungsstelle ihn abgelehnt habe. Zudem könne ein solches Training nicht erzwungen werden – das verletze sein Persönlichkeitsrecht.
Das Kammergericht gibt dem Vater recht – mit folgender Begründung
Das Kammergericht hob das Zwangsgeld auf und stellte das Vollstreckungsverfahren ein. Die Kernaussagen der Entscheidung:
✅ Beratungsauflagen grundsätzlich möglich
Ein Anti-Gewalt-Training kann grundsätzlich auf § 1666 BGB gestützt werden. Es greift – im Gegensatz zu einer Therapie – nicht automatisch unzulässig in das Persönlichkeitsrecht ein. Die Maßnahme muss aber:
- bestimmt,
- geeignet und
- verhältnismäßig sein
um nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 FamFG i. V. m. § 888 ZPO vollstreckt werden zu dürfen.
❌ Keine Zwangsvollstreckung ohne Einsicht
Besteht jedoch keine Veränderungsbereitschaft, ist die Maßnahme nicht geeignet – und darf nicht mit Zwang durchgesetzt werden. Die Erzwingung eines Gesinnungswandels durch staatliche Gewalt verstößt gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht.
Zudem sei die Auflage im vorliegenden Fall nicht hinreichend bestimmt – die genaue Zahl der Termine wurde nicht genannt.
Beratung setzt Freiwilligkeit voraus
Das Gericht betont: Beratungsmaßnahmen beruhen auf Freiwilligkeit. Es braucht ein „Minimum“ an Einsicht. Eine echte Verhaltensänderung lässt sich nicht erzwingen.
Die Anwendung von Zwangsmitteln könne deshalb – wie bei Therapien – nicht der richtige Weg sein. Das gilt erst recht, wenn der Elternteil das Angebot bereits abgelehnt oder seine Ungeeignetheit feststeht.
Was bedeutet das für die Praxis?
Diese Entscheidung stellt die Grenzen staatlicher Einflussnahme im familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren deutlich klar:
🔸 Familiengerichte dürfen:
- Auflagen zur Gewaltprävention erlassen
- Eltern zur Mitwirkung auffordern
- Auflagen als milderes Mittel gegenüber schärferen Maßnahmen anordnen
🔸 Familiengerichte dürfen nicht:
- Verhaltensänderungen erzwingen, wenn keine Einsicht vorliegt
- Anti-Gewalt-Trainings zwangsweise vollstrecken
- die elterliche Persönlichkeit „umpolen“
Was stattdessen? Umgangseinschränkung oder Entzug der Sorge
Wenn ein Elternteil trotz mehrfacher Hinweise weiterhin gewalttätig oder uneinsichtig bleibt, kann das Gericht zu anderen Mitteln greifen:
- Vollstreckung von Kontaktverboten
- Einschränkung oder Ausschluss des Umgangs
- Teilweiser oder vollständiger Entzug der elterlichen Sorge
Diese Maßnahmen sind rechtsstaatlich zulässig, wenn sie dem Schutz des Kindes dienen.
Der Beschluss des Kammergerichts ist ein deutliches Signal: Die Entscheidung mahnt zur Sorgfalt bei der Anordnung und Durchsetzung von Auflagen. Nur wer freiwillig und einsichtsfähig ist, kann durch Beratung oder Training wirklich erreicht werden. Wo das nicht gelingt, braucht es andere familienrechtliche Maßnahmen als die Vollstreckung.
©Karola Rosenberg