Fehlende Kooperationsfähigkeit: wann das alleinige Sorgerecht gerechtfertigt ist
(OLG Dresden, Beschluss vom 03.08.1999 – 22 UF 121/99)
Auch wenn die Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden bereits aus dem Jahr 1999 stammt, ist sie bis heute in der familiengerichtlichen Praxis von Bedeutung. Sie wird in der Rechtsprechung und Literatur regelmäßig zitiert. Das zeigt: Manche gerichtlichen Grundsätze behalten über Jahrzehnte hinweg Gültigkeit.
Im Mittelpunkt steht eine Frage, die in vielen Trennungssituationen eine entscheidende Rolle spielt: Wann ist gemeinsames Sorgerecht dem Kindeswohl dienlich und wann nicht mehr?
Der Fall: Trennung, Verletzung, fehlende Kooperation
Im entschiedenen Fall lebten die Eltern einer minderjährigen Tochter nach ihrer Trennung getrennt. Das Kind wohnte bei der Mutter, die beim Familiengericht beantragte, ihr das alleinige Sorgerecht zu übertragen.
Die Mutter begründete ihren Antrag damit, dass sie aufgrund der Umstände der Trennung (der Vater hatte eine neue Beziehung begonnen) emotional stark belastet sei. Sie habe das Vertrauen in eine gemeinsame Kommunikation verloren und sehe sich außerstande, in Erziehungsfragen mit dem Vater zusammenzuarbeiten.
Das Familiengericht folgte diesem Antrag und übertrug der Mutter das alleinige Sorgerecht. Der Vater legte dagegen Beschwerde beim OLG Dresden ein, blieb dort aber erfolglos.
Das Gericht: Kooperationsfähigkeit ist Grundvoraussetzung
Das OLG Dresden stellte in seiner Entscheidung klar, dass gemeinsames Sorgerecht nur funktionieren kann, wenn beide Eltern in wesentlichen Fragen kooperationsfähig und kooperationsbereit sind.
„Das Fehlen objektiver Kooperationsfähigkeit und subjektiver Kooperationsbereitschaft auch nur auf Seiten eines Elternteils rechtfertigt die Anordnung der Alleinsorge, wenn die Haltung des betreffenden Elternteils auf nachvollziehbaren Gründen beruht und nicht willkürlich erscheint.“
Mit anderen Worten: Es genügt nicht, wenn beide Eltern grundsätzlich erziehungsgeeignet sind. Sie müssen auch bereit und fähig sein, bei wichtigen Fragen des Kindes gemeinsam zu handeln, etwa bei Schulentscheidungen, medizinischen Behandlungen oder Betreuungsfragen.
Warum das gemeinsame Sorgerecht aufgehoben wurde
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Mutter nach der Trennung emotional so tief verletzt war, dass sie eine sachliche Zusammenarbeit mit dem Vater nicht leisten konnte. Diese Haltung beruhte auf nachvollziehbaren Gründen: Die Trennung war für sie ein Schock, sie fühlte sich betrogen und entwertet.
Die Richter des OLG Dresden betonten ausdrücklich, dass diese Haltung nicht als willkürlich oder unberechtigt angesehen werden könne. Es sei menschlich nachvollziehbar, dass ein Elternteil nach einer derart belastenden Trennung Zeit brauche, um emotional wieder stabil zu werden.
Ein gemeinsames Sorgerecht hätte in dieser Situation bedeutet, dass beide Eltern immer wieder gezwungen gewesen wären, über zentrale Fragen zu verhandeln, eine Situation, die neue Konflikte beinahe zwangsläufig hervorgebracht hätte.
Das Gericht wies außerdem darauf hin, dass solche Konflikte nicht nur die Eltern, sondern vor allem das Kind treffen:
- Kinder spüren Spannungen zwischen den Eltern besonders sensibel.
- Wiederkehrende Streitigkeiten über Schule, Arztbesuche oder Alltagsthemen können zu dauerhafter Belastung und Verunsicherung führen.
- Damit wird die Verarbeitung der Trennung für das Kind erheblich erschwert.
Die psychische Zwangslage eines Elternteils
Ein weiterer wichtiger Punkt der Entscheidung betrifft die psychische Situation des betreuenden Elternteils.
Das Gericht führte aus, dass ein gegen den Willen eines Elternteils angeordnetes gemeinsames Sorgerecht diesen in eine Zwangslage bringen könne: Trotz starker innerer Ablehnung müsse immer wieder Kontakt mit dem anderen Elternteil gesucht werden.
Dies könne die notwendige emotionale Distanz verhindern und den Heilungsprozess blockieren. Noch schwerer wiege jedoch, dass die (zumeist unbewusst) ablehnende Haltung auf das Kind übertragen werden könne. Das Kind gerate dann in einen Loyalitätskonflikt, der seine Beziehung zu einem oder beiden Elternteilen beeinträchtigen könne.
Rechtlicher Rahmen und Einordnung
Die Entscheidung fiel kurz nach Inkrafttreten der Reform des Kindschaftsrechts (01.07.1998). Seitdem ist das gemeinsame Sorgerecht der gesetzliche Regelfall. Die Alleinsorge stellt eine Ausnahme dar, die nur angeordnet werden darf, wenn sie dem Kindeswohl am besten entspricht (§ 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB).
Das OLG Dresden stellte klar, dass das bloße Fehlen von Kooperationsbereitschaft nicht automatisch zur Alleinsorge führen darf. Vielmehr müsse das Gericht prüfen,
- ob die Gründe für die Haltung des Elternteils nachvollziehbar sind,
- ob die Haltung am Kindeswohl orientiert ist und
- ob sie nicht willkürlich
Damit verband das Gericht zwei Ebenen:
- Das subjektive Empfinden des Elternteils, also die persönliche Belastung, die eine Kooperation unmöglich macht.
- Das objektive Kindeswohl, also die Frage, ob das Kind durch eine erzwungene Zusammenarbeit Schaden nehmen würde.
Diese Abwägung führte dazu, dass die Mutter die Alleinsorge erhielt.
Das Kindeswohl als oberste Leitlinie
Das OLG Dresden griff mit seiner Entscheidung einen Grundsatz auf, der bis heute gilt:
Im Familienrecht steht das Wohl des Kindes über allen anderen Interessen.
Auch wenn die gemeinsame elterliche Sorge der Normalfall ist, muss sie dort enden, wo sie dem Kind schadet. Das bedeutet nicht, dass Konflikte automatisch zur Aufhebung der gemeinsamen Sorge führen. Viele Eltern schaffen es, trotz Meinungsverschiedenheiten einen Weg der Zusammenarbeit zu finden.
Entscheidend ist aber: Wenn dauerhafte Kommunikationsunfähigkeit besteht, ist es Aufgabe des Gerichts, eine klare Struktur zu schaffen, die dem Kindeswohl dient.
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©Karola Rosenberg



